Politik

Rechts ist nicht gleich rechts: das Ergebnis der niederländischen Parlamentswahl aus deutscher Sicht

15.12.2023

Dieser Artikel ist in niederländischer Sprache als Experten-Artikel von Günter Gülker, Geschäftsführer der Deutsch-Niederländischen Handelskammer, für das niederländische Wirtschaftsmagazin „De Ondernemer“ erschienen.

Das „Erdbeben“ und den „Schock“, über den viele niederländische Medien nach den niederländischen Parlamentswahlen und dem klaren Sieg der PVV unter Geert Wilders schrieben, dominierte auch in der Berichterstattung der deutschen Medienlandschaft. Von überregionalen Qualitätsmedien bis hin zu nationalen Boulevardmedien. Ob Tageszeitung, Nachrichtenmagazine oder Fernsehnachrichten. Hier einige der Headlines: „Wilders-Schock“, „Wilders erschreckt Unternehmen.“ „Unbezahlbarer Wahnsinn – Mit Wilders droht eine Kehrtwende in der Klimapolitik.“ „Albtraum für alle Muslime“. „Rechtsruck in den Niederlanden.“ Aber auch: „Wilder’s Wahl sollte ein Warnsignal für Deutschland sein.“ Und: „Notschrei der Bevölkerung“.

Diesmal ist etwas anders. Nicht nur die auffallende ungewöhnliche Schärfe, mit der die Medien in Deutschland unisono, unabhängig der redaktionellen Leitlinien, über den Wahlausgang berichten. Sondern auch, dass der Wahlausgang im Nachbarland drei Wochen nach der Wahl noch immer thematisiert wird – obwohl in den deutschen wie auch in den internationalen Medien das Interesse am Wahlergebnis in den ersten Tagen nach den Wahlen üblicherweise immer weiter nachlässt, wenn die Korrespondenten der internationalen Medien wieder zurück in ihrer Brüsseler Homebase sind.

Sorge vor einer Niederlande First-Strategie 

Anders diesmal. Weil der Rückzug von Ministerpräsident Mark Rutte nach 13 Jahren sowieso eine Zäsur in der niederländischen Innen- und Außenpolitik bedeutet und sich die europäischen Nachbarländer fragen, ob die Niederlande ein verlässlicher Partner bleiben werden. Und weil nach dem Sieg von Geert Wilders mit einem möglichen „Nexit“ im PVV-Wahlprogramm die Frage nach der künftigen Zusammenarbeit brisanter ist als sonst. Denn die Sorge vor einer Niederlande First-Strategie ist im Ausland groß. Die New York Times verglich Wilders mit Trump – sicherlich keine Beruhigung für die bisherigen engen europäischen Verbündeten der Niederlande. Erst recht nicht für Deutschland, dem wichtigsten Handelspartner der Niederlande.

Dass das Wahlergebnis in Deutschland so ungewöhnlich scharf und lange diskutiert wird, liegt aber nicht nur an der Zäsur nach dem Ende der Ära Rutte, sondern vor allem an dem unterschiedlichen Verständnis des Wortes „rechts“ in beiden Ländern. In Deutschland wird mit einer rechten politischen Gesinnung historisch bedingt eher Rechtspopulismus und stärker noch Rechtsextremismus assoziiert. Anders in den Niederlanden, wo „rechts“ schlichtweg „konservativ“ bedeutet. Denn auch die alte Regierungspartei VVD von Rutte war rechtsliberal – und das sorgte in Deutschland nicht für annähernd dieselben Wogen, die Wilder’s PVV derzeit in Deutschland schlägt. Über einen VVD-Minister oder Wahlgewinner hätte ein deutscher amtierender Minister niemals kurz nach der Wahl vor der Presse geurteilt, dass dieser „zu pro-russisch,  zu pro-Kremlin, anti-europäisch und sowieso ein Wolf im Schafspelz“ sei. Mit diesen Worten warnte der deutsche Verteidigungsminister Pistorius vor wenigen Tagen medienwirksam vor Wilders. Ungewöhnlich deutlich und unverblümt.

Parallelen zwischen PVV und AfD

In Deutschland werden derzeit Parallelen zwischen PVV und der „Alternative für Deutschland“ (AfD) gezogen. Die AfD wurde 2013 als Protestpartei gegen die Eurorettungspolitik gegründet und hat sich, mit dem Austritt der meisten Gründungsmitglieder, immer weiter radikalisiert und von einer konservativ-liberal gesinnten, europaskeptischen Bewegung zu einer nationalpopulistischen Partei entwickelt mit mehr und mehr Mitgliedern aus dem rechtsextremen Milieu. Die AfD wird mittlerweile wegen der rechtsradikalen Aussagen der Parteispitze vom Verfassungsschutz beobachtet; einzelne Mitglieder wie der thüringische AfD-Chef Björn Höcke darf sogar offiziell als Faschist bezeichnet werden, wie ein Gericht urteilte.

Dennoch befindet sich die AfD seit Wochen im Umfragehoch. Wären in Deutschland demnächst Bundeswahlen, würde diese Partei nach der CDU zweitstärkste Kraft. Die drei amtierenden Regierungsparteien würden deutlich schwächer abschneiden – auch hier eine Parallele zu der alten niederländischen Regierungskoalition, in der bei den Parlamentswahlen im November ausnahmslos alle Regierungsparteien abgestraft wurden.

Und bei aller politischer Uneinigkeit der deutschen Ampel-Koalition - bestehend aus SPD, Grüne und FDP - scheint derzeit die Sorge um den Sieg der AfD und das Streben, diesen Sieg zu verhindern, die derzeit noch einzige Gemeinsamkeit der deutschen Regierungsparteien zu sein. Und auch darum werden die Niederlande derzeit von Berlin aus besonders aufmerksam beobachtet. Denn, so lehrt es die Geschichte, sind in der Vergangenheit in den Niederlanden öfter Ereignisse und Entwicklungen geschehen, die später auch in Deutschland eintrafen. So steht unausgesprochen die Frage im Raum: Was wäre, wenn bei der nächsten Bundestagswahl oder im Falle vorgezogener Neuwahlen die AfD die stärkste Fraktion werden würde?

Unzufriedenheit und Verunsicherung führen zu Rechtsruck

Unzufriedenheit und Verunsicherung, die Hauptgründe der PVV-Wähler, könnten auch in Deutschland bei den nächsten Bundestagswahlen für einen Rechtsruck sorgen. Denn auch in Deutschland sind wachsende Teile der Gesellschaft unzufrieden mit der Migrationspolitik, auch in Deutschland wird über Sozialleistungen diskutiert („Arbeit muss sich wieder lohnen“) und fühlen sich Bürger und ihre Sorgen zunehmend nicht gehört. Viele Parallelen zu den Niederlanden.

Doch es gibt auch deutliche Unterschiede zwischen AfD und PVV. Die PVV zeigt sich nicht homophob. In der AfD gibt es antisemitische Tendenzen, die PVV dagegen positioniert sich deutlich pro-israelisch. Und Geert Wilders verwandelte sich in den letzten Wahlkampfwochen in „Geert Milders“: Er zeigt sich offen für neue Bündnisse und deutet an, seinen bisherigen Fokus auf anti-islamische Positionen hintenan zu stellen – noch ein wichtiger Unterschied zur AfD.