Der unerwartet deutliche Wahlsieg des Rechtspopulisten Geert Wilders bei der niederländischen Parlamentswahl wird einhellig als historischer Paukenschlag gesehen. Dabei ist dieses Wahlergebnis Ausdruck einer wachsenden Ambivalenz sowohl der niederländischen Politik und Gesellschaft als auch der Wahrnehmung der Niederlande im Ausland.
Gastbeitrag vom Bundestagsabgeordneten Otto Fricke (FDP)
Das Bild der toleranten, liberalen Niederlande sei ein Mythos, warnt der Historiker und Deutschland-Niederlande-Experte Friso Wielenga nicht umsonst schon seit 2017, gleichwohl dieses Bild in Deutschland dank der rechtsliberal geführten bisherigen Regierungen unter Mark Rutte noch weit verbreitet ist. Dieses Bild wird sich durch das Wahlergebnis nun massiv ändern: Am 22. November verlor die VVD ihre Position als stärkste Fraktion deutlich an die PVV von Geert Wilders. Umfragen hatten dessen Aufstieg zwar angedeutet, aber in dieser Deutlichkeit – Wilders holte mit 37 Sitzen und 23,6% mit großem Abstand die meisten Stimmen – nicht vorhergesehen. Sowohl in der politisch-inhaltlichen Ausrichtung als auch in der starken Veränderung im Vergleich zur Vorwahl, aber auch zu den Provinzwahlen im März, ist das Wahlergebnis damit ein historisches Novum in den Niederlanden.
Die politische Analyse ist allerdings nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint: Ja, Wilders ist Rechtspopulist. Das Verständnis von „Rechts“ ist jedoch in Deutschland historisch bedingt ein anderes als in den Niederlanden und dort eher mit „konservativ“ zu übersetzen. Auch wenn die PVV auf den ersten Blick der deutschen AfD weitestgehend zu entsprechen scheint, gibt es wesentliche Unterschiede, etwa was die Position gegenüber Israel und den jüdischen Mitbürgern angeht, aber auch gegenüber Homosexualität. Gerade der Einfluss der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern und die eindrücklichen Bilder der propalästinensischen Demonstrationen, die auch in den Niederlanden stattfanden und stattfinden, so zumindest der mir in vielen Gesprächen vermittelte Eindruck, haben zahlreiche auf Seiten Israel stehende Niederländer ihr Kreuz am Ende bei Wilders, der begründet als größter Freund Israels in der Zweiten Kammer gilt, machen lassen.
Auch Wilders selbst personifiziert diese Ambivalenz, hat in jungen Jahren in einem Kibbuz gearbeitet – die politisch bekanntermaßen basisdemokratisch bis links ausgerichtet sind – und besetzt mit seiner anti-islamischen Positionierung und Migrationsfeindlichkeit gleichzeitig rechte Kernthemen. Aufgelöst wird dieser Widerspruch insofern, als dass Wilders den Islam nicht als Religion, sondern als Ideologie ansieht.
Die Wählerentscheidung für die PVV wurde vor allem von Gefühlen, allen voran Angst, statt Werten dominiert und ist Ausdruck großer Verunsicherung. Die Provinzwahlen im Frühjahr dienten dabei wohl als Hemmschwellensenker zur Wahl weniger etablierterer Parteien. Allerdings konnte die dort erfolgreiche BBB (kleinbürgerlich-ländlich) in der längeren Performance, auch wegen der Frage, wer Ministerpräsident(in) würde, nicht überzeugen. Anders die NSC, eine erst im August vom bisher christdemokratischen Parlamentarier Pieter Omtzigt, dem man Führung zutraut, gegründete Partei. Sie schaffte aus dem Stand 20 Sitze bzw. 12,8%.
Eine Einordnung als Protestwahl wäre aber falsch: Wilders hat sich im Wahlkampf zuletzt bewusst staatsmännisch und offen („Geert Milders“) für Bündnisse gezeigt und damit konstruktiver als bisher dargestellt. Das dürfte ihm auf den letzten Metern wichtige zusätzliche Stimmen eingebracht haben. Auch ist der „Igitt-Faktor“, PVV zu wählen, anders zu beurteilen als in Deutschland.
Für mögliche Koalitionsbündnisse war Wilders laut eigener Aussage sogar bereit den bisherigen Fokus auf anti-islamische Positionen zurückzustellen – eine u.a. von VVD-Chefin Dilan Yesilgöz geäußerte rote Linie. Ambivalent ist daher auch der Ausblick auf die Regierungsbildung: Diese wird definitiv nicht einfach. Zwei Möglichkeiten scheinen denkbar: ein Linksbündnis ohne Wilders‘ Beteiligung mit mindestens VVD, NSC und dem Bündnis GL/PvdA sowie weiteren oder ein Rechtsbündnis unter Beteiligung der VVD, der BBB sowie der christdemokratisch-zentristischen Newcomerpartei NSC. Wahrscheinlicher ist letzteres, in einem Gedankenspiel sogar mit Wilders in zweiter Reihe und der türkischstämmigen Yesilgöz als Ministerpräsidentin. Strukturell sind die Mehrheiten klar rechts. Es gilt außerdem als Konsens, dass die Initiative für die Regierungsbildung bei Wilders liegt.
Damit ist mit einem Positionswechsel der Niederlande insbesondere im Bereich der Migrations- und Europapolitik zu rechnen, wenn auch nicht mit einem Nexit. Das werden Deutsche und Niederländer noch merken.